Es werden sehr verschiedene Ursachen der Legasthenie angenommen. Die neurobiologisch orientierte Forschung der letzten Jahre hat zu einem deutlichen Erkenntnisgewinn in Bezug auf die zentralnervöse Verarbeitung von auditiver und visueller Information bei der Lese-Rechtschreibstörung geführt. Durch die neuen Methoden der genetischen Forschung sind mögliche Genorte, die wahrscheinlich für die Entstehung der LRS relevant sind, gefunden worden. Das Zusammenwirken verschiedener Faktoren erscheint zur Zeit ein plausibles Erklärungsmodell für die LRS zu sein.
Genetische Disposition
Familienuntersuchungen in den USA, England und der BRD haben gezeigt, dass die Lese- und Rechtschreibstörung familiär gehäuft auftritt (Schulte-Körne 2001a). Die Rate der betroffenen Geschwister und betroffenen Eltern liegt zwischen 40 und 50%. Dies allein würde allerdings nicht ausreichen, um von einer genetischen Disposition zu sprechen. Erst der Vergleich von eineiigen mit zweieiigen Zwillingen ermöglicht die Abschätzung des genetischen Einflusses. Dieser liegt für die Rechtschreibstörung bei 60%, für die Lesestörung um 50%. Die Suche nach relevanten Genen hat zu verschiedenen sogenannten "Kandidaten-Gen-Regionen" geführt. Diese finden sich auf den Chromosomen 1, 2, 6, 15 und 18. In diesen Regionen vermutet man Gene, die eine wichtige Funktion bei der Regulation von zentralnervösen Prozessen spielen. Die aktuelle Forschung in der BRD zu den neurobiologischen und genetischen Grundlagen der Lese-Rechtschreibstörung (unterstützt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft) wird dazu beitragen, eine besseres Ursachenverständnis der Lese-Rechtschreibstörung zu erlangen. Die damit verbundene Hoffnung ist, aufgrund eines spezifischeren Ursachenverständnisses spezifischere Behandlungsformen zu entwickeln.
Störung der zentralen auditiven Wahrnehmung
Zu den Störungen der zentralen auditiven Wahrnehmung gehören die Wahrnehmung von nichtsprachlichen und die Wahrnehmung von sprachlichen Reizen. Im Vordergrund der Forschung der letzten Jahre stand die sogenannte "Phonologie-Defizit-Hypothese". Diese besagt, dass bei der Lese-Rechtschreibstörung die Fähigkeit, lautliche Segmente der Sprache zu unterscheiden und im Gedächtnis zu speichern, gestört ist (Schulte-Körne 2001b). Daher haben die Betroffenen auch große Probleme, den einzelnen Buchstaben die entsprechenden Laute und umgekehrt den Lauten die Buchstaben zuzuordnen. Neurobiologische Untersuchungen konnten zeigen, dass Regionen des Großhirns (linker temporo-parietaler Bereich), die im Wesentlichen bei der Wahrnehmung und Unterscheidung von Sprachreizen und Lauten aktiviert werden, bei Lese- und Rechtschreibgestörten signifikant geringer aktiviert werden (Paulesu et al. 2001, Rumsey et al. 1997, Georgiewa et al. 2002). Dies bedeutet, dass hirnorganische Korrelate für die gestörte Sprachwahrnehmung vorliegen.
Die Bedeutung der gestörten Sprachwahrnehmung und der phonologischen Verarbeitung liegen in folgenden Überlegungen: Das Sprachwahrnehmungsdefizit ist bereits in den ersten Lebensjahren vorhanden und könnte einen wesentlichen Prädiktor für den gestörten Schriftspracherwerb darstellen. Möglicherweise stellen diese Befunde eine Grundlage für eine Frühdiagnostik und Frühförderung dar.
Das phonologische Verarbeitungsdefizit, gemessen zum Ende der Kindergartenzeit, lässt eine recht gute Vorhersage des Erfolgs im Schriftspracherwerb zu (Jansen et al. 2002). Vorschulische Förderung von phonologischen Fähigkeiten wirkt sich positiv auf den Schriftspracherwerb der ersten drei Grundschuljahre aus (Schneider et al. 1998). Inwieweit die Förderung von phonologischen Fertigkeiten über die Kindergartenzeit hinaus zu einer Verbesserung der Lese- und Rechtschreibleistung führt, ist für die deutsche Schriftsprache noch zu zeigen. Die Befunde hierzu sind widersprüchlich.
Störung der zentralen visuellen Wahrnehmung
Die Bedeutung der zentralen visuellen Wahrnehmung ist im Vergleich zur auditiven Wahrnehmung als Ursache der Lese-Rechtschreibstörung geringer einzuschätzen. Neurobiologische Untersuchungen zeigten, dass der occipitale und temporale Cortex bei Lese-Rechtschreibgestörten im Vergleich zu Kontrollpersonen verzögert und geringer aktiviert wird, wenn Wörter und Pseudowörter gelesen wurden (Salmelin et al. 1996). Diese Befunde zeigen, dass Wort- bzw. Buchstabeninformationen in spezifischen Hirnarealen bei den Lese- Rechtschreibgestörten deutlich verzögert und ineffektiver wahrgenommen werden. Ferner finden sich wiederholt Hinweise, dass spezifische Funktionen von Neuronen des sogenannten großzelligen Systems, das durch sich bewegende Reize aktiviert wird, bei der LRS gestört sind (Cornelissen et al. 1998, Schulte-Körne et al. 2003a). Die Bedeutung solcher basaler visueller Wahrnehmungsdefizite für die LRS ist zur Zeit noch nicht vollständig aufgeklärt.
Störungen des Lernens und des auditiven Gedächtnisses
Die Lese-Rechtschreibstörung ist eine Lernstörung, die auf neurobiologische Funktionsstörungen zurückgeführt werden kann. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass bereits die neurobiologischen Korrelate des Lernens, wie die Speicherung von Wörtern, bei der LRS verändert sind (Schulte-Körne et al. 2003b).
Auch bei Aufgaben, die eine aktive Speicherung von Lauten erfordern, zeigt sich eine deutliche Minderleistung bei der LRS. Diese Speicherschwäche tritt selektiv nur bei Lauten und Buchstaben auf, nicht bei nichtsprachlichem Material (wie z. B. graphischen Mustern). Das bedeutet, dass bei der LRS eine spezifische Gedächtnisschwäche für schriftsprachliches Material vorliegt.
Bedeutung von beeinflussenden Faktoren
In der älteren Forschungsliteratur finden sich eine Vielzahl von weiteren Faktoren, die in einen ursächlichen Zusammenhang mit der Lese-Rechtschreibstörung gebracht wurden: Linkshändigkeit, frühkindliche Hirnschädigung, motorische Entwicklungsverzögerung, unzureichende elterliche Förderung, Familiengröße, Geburtsgewicht, Erziehungsschwierigkeiten, neurotische Störungen bei den Eltern, Trennung oder Scheidung der Eltern, ungelöste Konflikte beim betroffenen Kind sowie niedriger sozioökonomischer Status.
Heute nimmt man an, dass alle diese Faktoren keine Ursachen der Lese-Rechtschreibstörung darstellen. Einzelne dieser Faktoren können jedoch den Verlauf der Störung beeinflussen. Umgebungsfaktoren mit entscheidendem Einfluss auf die Lese- und Rechtschreib-Entwicklung des Kindes sind das Vorhandensein von Lese- und/oder Rechtschreibproblemen bei den Eltern selbst, das Ausbildungsniveau der Eltern, die Unterstützung durch die Eltern bei den Hausaufgaben und die emotionale Unterstützung in Schule und Familie.