Unter der Voraussetzung der Erweiterung des Katalogs der Verordnung § 3 des § 47 BSHG auf die im ICD-10 genannten Störungen gehören die Entwicklungsstörungen zu den psychischen Erkrankungen, die zu einer seelischen Behinderung führen können. Das heißt aber auch, dass die Lese-Rechtschreibstörung an sich noch keine seelische Behinderung darstellen muss, jedoch zu einer seelischen Behinderung führen kann.
Die Lese-Rechtschreibstörung wird zu einer drohenden oder bestehenden seelischen Behinderung in dem Moment, in dem aufgrund dieser Störung die gesellschaftliche Integration gefährdet ist.
Jedoch sind mit § 3 der Verordnung nur die schon seelisch Behinderten beschrieben. Da jedoch nach KJHG Eingliederungshilfe für die Gruppe der von einer seelischen Behinderung Bedrohten und für seelisch nicht wesentlich Behinderte gewährt wird, müssen auch diese Gruppen definiert werden.
Von einer Behinderung bedroht sind nach § 5 Eingliederungshilfe die Personen, bei denen der Eintritt der Behinderung nach allgemeiner ärztlicher oder sonstiger fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Die Lese-Rechtschreibstörung wird zu einer drohenden oder bestehenden seelischen Behinderung in dem Moment, in dem aufgrund dieser Störung die gesellschaftliche Integration gefährdet ist.
Faktoren, die die gesellschaftliche Integration negativ beeinflussen können, sind Risikofaktoren. Risikofaktoren für die Lese-Rechtschreibstörung wurden aus der Forschungsliteratur gewonnen. Die Bedeutung der einzelnen Risikofaktoren können für jedes Kind unterschiedlich sein, teilweise können auch mehrere Risikofaktoren additiv wirken. Hierzu zählen der Schweregrad der Störung, der Verlauf der Störung (chronisch), die zusätzlichen Erkrankungen und das soziale und familiäre Umfeld.
Zum Begriff Behinderung
Das KJHG verpflichtet im § 35 a die Jugendhilfe, Hilfe für seelisch Behinderte bzw. von einer Behinderung Bedrohte zu gewähren.
Der Begriff der seelischen Behinderung wird in einer Stellungnahme der Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 1995 wie folgt definiert:
"Die seelische Behinderung oder drohende seelische Behinderung ist eine durch intensive, auch längerfristige ambulante, teilstationäre und/oder stationäre medizinische, insbesondere kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung nicht vollständig behebbare Beeinträchtigung des seelischen Befindens, der familiären, sozialen, vorschulischen, schulischen und beruflichen Integration ... Infolge einer seelischen Erkrankung drohen oder bleiben Beeinträchtigungen der altersadäquaten sozialen Beziehungs- und Orientierungsfähigkeit bzw. der begabungsadäquaten Leistungsfähigkeit in einem Ausmaß bestehen, dass die Teilnahme am Leben der Gesellschaft wesentlich bedroht oder beeinträchtigt ist." (Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters in der Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatie 23, 219 - 222, 1995).
Die Feststellung einer seelischen oder drohenden seelischen Behinderung ist ohne medizinisch qualifizierte Fachkompetenz hierfür nicht möglich.
Im Kommentar zum KJHG weist Münder auf den pädagogischen Aspekt der Behinderung hin (J. Münder, Frankfurter Lehr- und Praxiskommentar zum KJHG): "Als behindert i. S. der Behinderten- oder Sonderpädagogik werden Kinder- und Jugendliche angesehen, die in ihrem Lernen, im sozialen Verhalten, in der sprachlichen Kommunikation oder in den psychomotorischen Fähigkeiten längerfristig und dauerhaft so weit beeinträchtigt sind, dass ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft wesentlich erschwert ist und sie deshalb besonderer pädagogischer Förderung bedürfen.
Als seelisch behindert gelten Kinder und Jugendliche, bei denen infolge psychischer Belastungen und Besonderheiten die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben (z. B. in sozialer, schulischer, beruflicher Hinsicht) beeinträchtigt ist.
Behinderung ist im Sinne des KJHG ein sozialrechtlicher Begriff, der es erlaubt, Personenkreise zu definieren, die auf Eingliederungshilfe Anrecht haben."
Nach § 35a kann Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche oder von einer solchen Behinderung Bedrohte gewährt werden. Die Anwendung des Paragraphen 35a setzt folglich eine Bestimmung des Personenkreises voraus, auf den § 35a angewendet werden kann. Für die Bestimmung dieses Personenkreises wird auf den § 47 des BSHG § 3 verwiesen.
Jedoch sind mit dem § 3 der Verordnung nur die seelisch Behinderten beschrieben. Da jedoch nach dem KJHG Eingliederungshilfe für die Gruppe der von einer seelischen Behinderung Bedrohten und für seelisch nicht wesentlich Behinderte gewährt wird, muss auch diese Gruppen definiert werden.
3 Seelisch wesentlich Behinderte.
Seelisch wesentlich behindert im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes sind Personen, bei denen infolge seelischer Störungen die Fähigkeit zur Eingliederung in erheblichem Umfang beeinträchtigt ist. Seelische Störungen, die eine Behinderung im Sinne des Satzes 1 zur Folge haben können, sind
1. körperlich nicht begründbare Psychosen,
2. seelische Störungen als Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns, von Anfallsleiden oder von anderen Krankheiten oder körperlichen Beeinträchtigungen,
3. Suchtkrankheiten,
4. Neurosen und Persönlichkeitsstörungen.
Die in Paragraph 3 der Verordnung genannten Störungen entstammen einem Störungskatalog aus den 60er Jahren, der längst nicht mehr dem heutigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entspricht. Die Weiterentwicklung der diagnostischen Ordnungssysteme und neue wissenschaftliche Erkenntnisse über Ursachen, Verlauf und Therapie einzelner Störungen bleiben unberücksichtigt. Daher sollte heute das von der WHO vertretene Werk, das Internationale Klassifikationsschema psychischer Störungen (ICD-10) die Grundlage für die Beschreibung des Personenkreises bilden. Insbesondere für den Bereich psychischer Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt das ICD-10 Entwicklungsaspekte angemessen.
Die Verordnung nennt psychische Erkrankungen als Voraussetzungen für die seelische Behinderung bzw. für die drohende seelische Behinderung.
Daher ist zu klären, ob Legasthenie eine seelische bzw. drohende seelische Behinderung darstellt. Dies kann nur durch entsprechende Fachgutachten erfolgen. Gutachter sind überwiegend Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie.