Möglichkeiten der Unterstützung im Elternhaus
Zentral in der Unterstützung für ein legasthenes Kind ist der Rückhalt in der Familie. Die Anerkennung durch die Eltern trotz schlechter Leistungen im Fach Deutsch stellt die Basis für eine positive Entwicklung des legasthenen Kindes dar. Dadurch, dass nicht selten die Diagnose Legasthenie recht spät gestellt wird und zuvor durch quälendes Üben zuhause und ausgedehnte Sitzungen zum Erledigen der Hausaufgaben das Verhältnis zwischen legasthenem Kind und Eltern extrem angespannt ist, ist vorrangig die Entlastung des Kindes und der Eltern wichtig (Warnke et al. 1989).
Die Entlastung erfolgt oft erst mit der Stellung der Diagnose und der Aufklärung über die Störung. Denn zuvor wurde innerhalb der Familie nach Erklärungen für das Scheitern des Kindes gesucht. Nicht selten sieht die Schule, das soziale Umfeld und sogar die Familie selbst die mangelnde Erziehungskompetenz eines Elternteils als Auslöser für die Legasthenie an.
Eltern suchen oft nach Möglichkeiten für Hilfen beim Lesen und Rechtschreiben ihres Kindes. Wenn eine Legasthenie vorliegt, sollte auch eine spezifische Legasthenie-Förderung durchgeführt werden. Dieses Vorgehen schließt nicht aus, dass Eltern den Schriftspracherwerb ihres Kindes zusätzlich unterstützen. Jedoch sollten die Hilfen für das Kind mit den Lehrern bzw. Therapeuten abgestimmt werden, da es nicht hilfreich ist, verschiedene Lernmethoden, die möglicherweise sich widersprechende Instruktionen beinhalten, gleichzeitig anzuwenden.
Mit Unterstützung von Fachleuten können Eltern auch spezifische Förderprogramme mit ihrem Kind durchführen, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Zu diesen Voraussetzungen zählen, dass die Eltern ausreichend Zeit haben, konsequent über einen längeren Zeitraum mit ihrem Kind zu üben. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kind darf nicht durch negative Lernerfahrungen so belastet sein, dass ein gemeinsames Üben zu ausgeprägten Auseinandersetzungen führt. Außerdem sollte die Möglichkeit bestehen, sich bei der Durchführung eines Förderprogrammes beraten zu lassen. Ein Beispiel für ein Programm, das hinsichtlich seiner Wirksamkeit als Elterntraining überprüft ist, ist das Marburger Rechtschreibtraining (Schulte-Körne & Mathwig 2001).
Möglichkeiten der Unterstützung durch die Schule
Der Schule kommen zentrale Aufgaben bei der Diagnostik, Förderung und Beratung zu. Auch wenn die Erfahrungen von Eltern in der Kooperation mit Schulen recht unterschiedlich sind, liegt die Aufgabe der Vermittlung des Schriftspracherwerbs bei der Schule. Das bedeutet, dass beim Auftreten von Schwierigkeiten im Lesen und/oder Rechtschreiben dies von den Lehrern bemerkt und beschrieben werden sollte. Im Gespräch mit den Eltern sollten diese Beobachtungen mitgeteilt und gemeinsam überlegt werden, welche Hilfen dem legasthenen Kind angeboten werden können und wie diese umgesetzt werden.
Die Kultusministerkonferenz hat 1978 einen Beschluss zu den "Grundsätzen zur Förderung von Schülern mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens" gefasst. Dieser Beschluss ist Grundlage für die in den einzelnen Bundesländern geltenden eigenständigen Regelungen in Form von Erlassen und Verwaltungsvorschriften. Die zur Zeit gültigen Regelungen der einzelnen Bundesländer sind auf auf der Internetseite des BVL unter www.legasthenie.net zsammengefasst.
Ziel dieser Regelungen ist es, für die einzelnen Bundesländer Standards im Umgang mit Kindern mit Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben zu schaffen. Die einzelnen Regelungen weichen jedoch erheblich voneinander ab. Die Folge ist, dass ein Kind mit Legasthenie recht unterschiedliche Ansprüche hinsichtlich der Diagnostik und Förderung hat, abhängig davon, in welchem Bundesland es wohnt. Eltern sollten sich in jedem Fall über die gesetzlichen Grundlagen informieren und auch die Umsetzung ihres Anspruchs einfordern.
Die Förderung des legasthenen Kindes ist eine zentrale Aufgabe der Schule, die jedoch recht unterschiedlich wahrgenommen wird. Die Unterschiede bestehen sowohl in der Quantität als auch in der Qualität der Angebote. Es wird zwischen zwei verschiedenen, übergeordneten Methoden der schulischen Förderung unterschieden. Die sogenannte Binnendifferenzierung setzt auf die Förderung im Klassenverband. Durch die Bildung von Leistungsgruppen im Klassenverband wird versucht, entsprechend dem Leistungsstand des Kindes individuelle Lernangebote zu schaffen. Die Wirksamkeit dieser Fördermethode bei Kindern mit Legasthenie ist bisher kaum untersucht, die vorliegenden Befunde zeigen im Wesentlichen aber Nachteile dieser Methode auf.
Die Einrichtung von Fördergruppen zusätzlich zum Unterricht wird nur vereinzelt in Schulen angeboten. Durch die Bildung von Gruppen aus Kindern mit Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben wird versucht, eine emotional entlastende Lernsituation zu schaffen. Durch eine Gruppenbegrenzung auf maximal 5 bis 6 Kinder ist es möglich, sich individuell dem einzelnen Kind zuzuwenden. Die Einrichtung von Fördergruppen kann eine wirksame Fördermethode sein, wenn prinzipielle Regelungen eingehalten werden. Hierzu gehört, dass der Förderunterricht zweimal wöchentlich in Kleingruppen erteilt wird. Die Gruppenzusammensetzung sollte möglichst leistungshomogen und störungsspezifisch sein. Das bedeutet beispielsweise, dass Kinder mit einer Rechenschwäche separat von Kindern mit einer Legasthenie gefördert werden sollten.
Entscheidend für den Erfolg von Fördergruppen ist das zugrunde liegende Konzept. Obwohl zur Zeit erst wenige evaluierte und wirksamkeitsgeprüfte Förderkonzepte vorliegen, sollte die Förderung nur auf solche aufgebaut werden.
Eine weitere Form von schulischen Hilfen ist der Notenschutz. Der Notenschutz ist bei Vorliegen einer Lese-Rechtschreibstörung unbedingt zu gewähren, da er zu einer deutlichen psychischen Entlastung des betroffenen Kindes führen kann. Bei bis zu 50% der Kinder und Jugendlichen mit einer Lese-Rechtschreibstörung treten psychische Auffälligkeiten auf. Diese werden überwiegend als Folge der ausgeprägten emotionalen Belastung der Schüler verstanden. Ein wesentlicher Grund für die emotionale Belastung sind die Schulnoten. Besonders hervorzuheben ist die Bedeutung der Schulnoten im Fach Deutsch für die Versetzung und insbesondere für die Schulempfehlung von Klassenstufe 4 zu 5.
Die Bewertung der schriftlichen Leistungen eines Schülers mit einer Lese-Rechtschreibstörung, die als eine Form einer Behinderung angesehen werden kann, bedeutet eine erhebliche Benachteiligung. Bei einer Körperbehinderung, die mit einer erheblichen Einschränkung der Motorik aufgrund einer Halbseitenlähmung verbunden ist, wird bei einem betroffenen Schüler die Leistung im Fach Sport auch nur unter Berücksichtigung der Behinderung bewertet.
Aufgrund der Bedeutung des Notenschutzes im Sinne der persönlichen und emotionalen Entwicklung sollte dieser bis zum Ende der Schulzeit gewährt werden. Dies trifft insbesondere auch für die Oberstufe im Gymnasium zu, da die Betroffenen ansonsten im Vergleich zu den Nicht-Betroffenen in den Möglichkeiten des Zugangs zum Hochschulstudium entscheidend benachteiligt werden.
Weitere Formen schulischer Hilfen können im Rahmen des Nachteilsausgleichs gewährt werden:
- Einsatz von Computern mit Fehlerkorrekturprogramm.
- Individuelle Bemessung der Zeitangaben bei der Leistungsüberprüfung im Lesen und Rechtschreiben.
- Möglichkeit bei schriftlichen Arbeiten, diese zunächst mündlich anzufertigen und sie mit ausreichend Zeit später zu verschriftlichen.
- Ausnutzung verschiedener Formen der Vermittlung von Rechtschreibfähigkeit bei ausgeprägter Lese- und Rechtschreibstörung (z. B. Handzeichen).
Die Formen des Nachteilsausgleichs sollten in allen Schulfächern, die schriftliche Anforderungen beinhalten, ermöglicht werden und bis zum Schulabschluss gelten.
Die überwiegende Anzahl der Lehrer ist trotz der Empfehlung der Kultusministerkonferenz von 1978 in den Fragen zur Diagnostik und Förderung bei "normalem und gestörtem Schriftspracherwerb" nicht ausgebildet. Weder im Studium noch in der Lehrerfortbildung ist eine Auseinandersetzung mit dieser Thematik für Grundschullehrer zwingend vorgesehen. Dies trifft ebenfalls für den Sekundarbereich zu. Hier besteht dringender Handlungsbedarf in der Verbesserung der Aus- und Weiterbildung von Lehrern.